Es gibt einen neuen Tonfall in der Brechtforschung. Die ideologischen Verzerrungen und politischen Verdächtigungen beginnen sich zu verflüchtigen. Die gewohnte Frontstellung des Ost-West-Konflikts, in dem Brecht instrumentalisiert wurde, löst sich auf. Als Gegenspieler zu Brecht wurde immer wieder Kafka in Stellung gebracht. Anders als Goethe und Schiller, die auch polarisierten, werden Kafka und Brecht als derart gegensätzlich empfunden, dass vermeintlich nur einer als akzeptabel gelten kann. Kafka und Brecht scheinen nicht einfach anders zu sein, sondern geradezu die Widerlegung des anderen.
Die vorliegende Arbeit begreift Kafka und Brecht als eine poetische Konfiguration des 20. Jahrhunderts. Die historische Sicht auf Kafka und Brecht soll die unterschiedlichen Zeiterfahrungen konturieren und die Gefährdungen, die beide erlebten, sorgfältig differenzieren.
In der Umdeutung und Neufassung antiker Mythen gibt es direkte Bezüge zwischen Kafka und Brecht. Beide haben nicht nur die Sirenen-Episode des Odysseus originell nachgedichtet, sondern auch andere "Mythenbäume" - Poseidon, Prometheus, Kandaules, Ödipus, Antigone - in die Moderne fortgeschrieben. Wird der jeweilige Mythos gedeutet? Wird er umgeschrieben? Wird er widerlegt? Wird er in Geschichte aufgelöst oder der Gegenwart geopfert? Verträgt er Witz und Ironie? Kann er Wahrheiten formulieren, die dauern? Der Blick auf Rilke soll verdeutlichen, wie radikal Kafka und Brecht in die Tradition des Mythenbestandes eingreifen. Der philosophische Diskurs von Horkheimer und Adorno zum Thema Mythos, speziell zu Homers Odysseus, enthüllt überraschende Übereinstimmungen und macht doch deutlich, wie unterschiedlich die Antworten auf ähnliche Fragen ausfallen können.